Weingartens Geschichte
von Klaus Geggus, Robert Hill, Hubert Daul
Die Ursprünge
Bei ersten Grabungen am Weingartener Baggersee wurden 1960 Mammutskelette (Backenzähne, Stoßzähne, Unterkiefer, etc.) aus der letzten Eiszeit, die vor zirka 10.000 Jahren endete, gefunden. Die erste menschliche Besiedlung ist bisher von der jüngeren Bandkeramik um 3000 bis 2400 v. Chr. durch Funde am Höhforst nachgewiesen. Des Weiteren wurden im Gewann Dörnig zirka 100 Hügelgräber von der Bronzezeit (ab 1500 v. Chr.) über die frühe Eisenzeit („Hallstattzeit“ um 800 v. Chr.) bis zum Beginn der Latène-Periode (Keltenzeit zirka 450 v. Chr.), nachgewiesen. Aus der Latènezeit sind mehrere Funde beim Turmberg und in Werrabronn belegt. Um 58 v. Chr. standen die Römer unter Julius Cäsar am Rhein. Vier nachgewiesene so genannte „Villa rustica“ lassen vermuten, dass sie vermutlich auch die ersten Weinreben an den sonnigen Weingartener Südhängen z.B. am Petersberg angepflanzt haben.
Stoß- und Backenzahn eines Mammuts im Turmmuseum | Grabfunde der Keltenzeit im „Dörnig“ |
Weingarten ist auf altem Kultur- und Siedlungsland zu beiden Seiten der Talausmündung des heutigen Walzbaches entstanden. Ein genaues Alter kann nicht angegeben werden. Jedoch weisen die im Ort entdeckten alemannischen und fränkischen Gräber (z.B. am „Alten Friedhof) auf zwei Ansiedlungen in der Merowingerzeit (6./7. Jahrh.) hin. Der eine Siedlungsschwerpunkt befand sich nur wenige Meter westwärts der heutigen evangelischen Kirche, und zwar in der Mützenau. Die zweite Ansiedlung lag etwa einen Kilometer davon entfernt in östlicher Richtung im Bereich der heutigen Mühlstraße. Beide Siedlungen lagen nahe am Bach, denn das Wasser war für die Menschen und die Haustiere lebenswichtig.
Weingarten wird schon im 9. Jahrhundert mehrmals erwähnt, aber ohne genaue Jahreszahl. Die erste urkundliche Nennung stammt allerdings aus dem Archiv des Benediktinerklosters Wissembourg im Elsass aus dem Jahre 985. Der so genannte „Codex Edelini“ (um 1280 von Abt Edelin verfasst) nennt als Anlass hierfür die gewaltsame Loslösung des Klosterbesitzes durch Gaugraf Otto von Worms. Dort werden 68 geraubte Ortschaften aufgelistet, unter anderen auch unser „wingarten ultra renum“. Das Kloster besaß in dieser Zeit umfangreiche Besitztümer mit dem dazugehörenden Zehnten, Bauernhöfe etc. und eine „basilica“. Mit diesem Raub endete die Abhängigkeit Weingartens vom Kloster Weißenburg. Nach 1004 gehörte Weingarten zu „Lehen des Grafen Konrad im Pfinzgau“, dem Sohn Ottos von Worms. Aus jener Zeit hat sich bis heute der große Gewölbekeller unter der heutigen Grundschule erhalten. Hier lagerte das Kloster seinen Wein, durchschnittlich zirka 6000 Liter (4 Fuder oder 40 Ohm) jährlich.
Krieg, Zerstörung und Wiederaufbau
In historischen Quellen taucht Weingarten erst wieder viel später auf und zwar im Zusammenhang mit den „Herren von Schmalenstein“, die einem alten schwäbischen Rittergeschlecht entstammten. Sie waren als Lehensmänner der „Pfalzgrafen bei Rhein“ auch Lehnsträger in Weingarten und müssen wohl das alte Schloss am Walzbach oberhalb des Dorfes, in der Nähe der Straße nach Jöhlingen, bewohnt haben. Nicht nur die Entstehungszeit, auch der Untergang des Schlosses liegen im tiefen geschichtlichen Dunkel. | kümmerlicher Rest eines Mauerteils des Schmalensteiner Schlosses |
Burg und Dorf werden im Jahre 1368 als kurpfälzisch erwähnt, und Weingarten gehörte dann bis zum Reichsdeputationshauptschluss 1803 zur Kurpfalz. Mit Sicherheit hat Herzog Ulrich von Württemberg im Jahre 1504 nicht nur das Dorf Weingarten, sondern auch das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bewohnte Schloss Schmalenstein zerstört. Von dieser Burganlage im Walzbachtal sind heute nur noch geringe Mauerreste vorhanden. Danach erfolgte ein Kirchenneubau mit Chorturm auf der Ostseite. Zusätzlich vor 1545 erhielt die Kirche, dem hl. Remigius geweiht, zusätzlich auf der Westseite einen neuen Glockenturm, der mit dem alten reformierten Teil erst 1901 für den Neubau der evangelischen Kirche gesprengt werden musste.
Erwähnenswert ist auch, dass schon im 15. Jahrhundert entlang des Walzbachs durch das Oberdorf drei Mühlen durch die Wasserkraft vom Walzbach betrieben wurden. Es waren:
- die Obermühle (Mühle Lepp), Mühlstraße 9, erwähnt im Jahr 1479 in einem Bestandsbrief der Kurpfalz;
- die Mittelmühle an der Hebelstraße 9, die urkundlich zum ersten Mal im Zinsregister des Jahres 1441 erschien und
- die Untermühle an der Kirchstraße 3, die ebenfalls 1441 urkundlich erwähnt wurde. Diese Mühle beim so genannten Gailbumber, die vermutlich durch die Weißenburger Mönche auf eine tausendjährige Geschichte zurückblicken konnte, stellte den Mahlbetrieb im Jahr 1907 ein.
Im Bauernkrieg 1525 wird Weingarten vom Gerichtsschreiber der Pfalz, Ludwig Häuser, nicht erwähnt. Jedoch befindet sich unter den Akten über Weingarten eine Nachricht, die sich direkt auf den Bauernkrieg bezieht. Sie zeugt von der weisen Maßhaltung des Markgrafen Philipp von Baden, der in seinem Schreiben vom 26. Juli 1525 dem Deutschen Ordensmeister empfahl, es zu machen, wie er es gemacht hat, nämlich bei der Erhebung des Zehnten Rücksicht zu nehmen.
Der Deutsche Orden, auch Deutscher Ritterorden genannt, spielt in der Geschichte unseres Ortes vom 14. bis Anfang des 19. Jahrhunderts eine herausragende Rolle. Davon zeugen noch zwei Wappensteine an der östlichen Giebelecke des evangelischen Pfarrhauses in der Kirchstraße, dem ehemaligen Pfleghof des Ordens. Im Jahre 1809 hob Napoleon I. den Deutschen Orden im Bereich der mit ihm verbündeten Staaten des Rheinbundes auf. Seine Liegenschaften in Weingarten im Umfang von zirka 25 Hektar, die offenbar an den badischen Großherzog gefallen waren, hatten acht Weingartener Bürger im Jahre 1813 als Erblehen erworben.
Nach 1600 weiteten sich die religiösen Spannungen zwischen den Konfessionen zu einem politischen Machtkampf aus. Der so genannte „Prager Fenstersturz“ am 23. Mai 1618 löste den Dreißigjährigen Krieg im Deutschen Reich aus. Dabei blieb auch Weingarten nicht verschont. Als eine Exklave der Kurfürsten von der Pfalz wurde es 1622 durch Truppen des in kaiserlichen Diensten stehenden Feldherrn Tilly zerstört. Elf Jahre später (1633/34) besetzten schwedische Truppen des protestantischen Königs Gustaf Adolf Weingarten, begleitet von Zerstörungen, Plünderungen und Verwüstungen von Feldern. Hungersnot und Pest dezimierten die Menschen. Erst nach dem Friedensschluss der Kriegsparteien 1648 in Münster und Osnabrück (Westfälischer Frieden) konnte der Wiederaufbau des Dorfes beginnen. Nachdem in der Pfalz ab 1648 die reformierte (calvinistische) Konfession wieder eingeführt werden musste, wurde auch in Weingarten das seit 1622 zugelassene katholische Bekenntnis wieder durch die reformierte Konfession ersetzt. Der nach 1648 eingekehrte Frieden hielt leider nicht lange an. In den Jahren 1674, 1689 und 1691 wurde Weingarten von französischen Truppen überfallen und zerstört (so genannter Pfälzischer Erbfolgekrieg). Deshalb waren dann nur noch 28 Bürger nach diesem fürchterlichen Jahrhundert in Weingarten registriert.
Ab 1700 wuchs die Einwohnerzahl wieder kontinuierlich an. Zahlreiche Neubürger kamen auf Veranlassung des Kurfürsten aus der Schweiz und ließen sich in Weingarten nieder. Ab 1695 betreute und begleitete der allseits beliebte reformierte Pfarrer Johann W. von Hospital die Pfarrstelle in Weingarten mit kurzen Unterbrechungen bis zu seinem Tod im Jahr 1750. Noch heute sind viele Nachnamen im Ort mit schweizerischem Ursprung: Schaufelberger (Schufelberger), Enderle (Enderli), Streit (Streitli), Mockler (Möckli), Koch, Laubscher, Breitenstein, Siegrist usw. Gemeinsam mit den Überlebenden bauten sie den Ort wieder auf. Erst im Jahre 1800 zählte Weingarten wieder über 2000 Einwohner. Das Wirtschaftsleben erholte sich schnell, nachdem dafür wieder alle wichtigen Handwerker verfügbar waren.
Handwerk und Weinbau – Weingarten als Marktflecken
Um 1800 zählte Weingarten, wie im Jahre 1617 bei der Weingartener Erneuerung, zirka 2000 Einwohner und 120 Handwerker. Der Weinbau wurde mit 70 Hektar Anbaufläche wieder in größerem Umfang betrieben. So wurde z.B. im Jahre 1781 ein Spitzenertrag von 576.700 Liter (~ 534 Fuder) gekeltert, für damalige Verhältnisse sehr viel. Im Vergleich dazu liegt die heutige Produktion nur unwesentlich höher. Ungefähr ¼ der bebauten Rebfläche, ca. 45 Morgen (1Morgen ~ 25 Ar), waren zu dieser Zeit herrschaftlich (kurfürstlich) und wurden durch den „Amtskeller“ verwaltet, ca. 25 Morgen gehörten kirchlichen Stiftungen wie dem Deutschritter-orden, Herrenalber Hof, Maulbronner Hof, Gottesauer Hof sowie Pfarrgutpfründe. Der Reb-flächen-Anteil der bürgerlichen Untertanen belief sich auf ca. 210 Morgen. Von dem erwirtschafteten Ertrag wurde schon immer der Weinzehnt an den Kurfürsten geliefert. Er wurde mühsam mit Ochsenkarren nach Heidelberg transportiert.
In seiner gesamten Geschichte war Weingarten, als bekannter und reicher Marktflecken immer mit dem Weinbau verbunden. Aus der ganzen Umgebung kamen Menschen zu den Markttagen, und kauften auf den vielen Märkten (Schuhmarkt, Topfmarkt, Holzmarkt, etc.) die Güter des täglichen Bedarfs ein. Außer dem Weinbau prägten deshalb auch die vielen hier wohnenden Handwerker mit ihren unterschiedlichen Fertigkeiten das Gesicht des Marktfleckens.
Weingarten wird badisch
Während der so genannten Revolutionskriege unter Napoleon schickte Frankreich drei große Heere über den Rhein. Eine Truppenabteilung fiel in die Markgrafschaft Baden ein und zog auf ihrem Weg über Bruchsal, das gebrandschatzt wurde, auch durch Weingarten und besetzte es von Anfang Juli bis 13. September 1796.
Als kurpfälzische Exklave an der Pforte zur badischen Markgrafschaft Durlach gelegen, war es um Weingarten nie besonders gut bestellt. Dies änderte sich erst mit der Neuordnung des alten Reiches durch den Reichsdeputationshauptschluss im Jahre 1803. Napoleon versprach dem Markgrafen von Baden eine Vergrößerung seines Besitzes von Mannheim bis zum Bodensee. Aus diesem Grund wurde die rechtsrheinische Kurpfalz, zu der Weingarten gehörte, der Markgrafschaft Baden zugesprochen. Sie wurde von Napoleons Gnaden Großherzogtum, doch der Königstitel, wie ihn die Herzöge von Bayern und Württemberg erhielten, blieb dem Großherzog verwehrt. Als Gegenleistung mussten die Fürsten der neu gegründeten „Rheinbundstaaten“ Soldaten für Napoleons Russlandfeldzug stellen. In seiner 600.000 Mann starken „Grande armée“ waren auch mehrere junge Männer aus Weingarten als Soldaten rekrutiert worden. Nur einer von ihnen, mit Namen Zeh, kehrte nach der vernichtenden Niederlage Napoleons zurück.
Nach dem Ende der Herrschaft Napoleons begann für Weingarten ein wirtschaftlicher Aufschwung. Im Jahr 1823 wurde die Marktbrücke durch den badischen Ingenieur-Oberst Johann Gottfried Tulla erbaut. Sie prägt seither mit dem offenen Lauf des Walzbachs, dem Rathaus aus dem Jahre 1901 und den beiden Kirchen den Ortsmittelpunkt in bewundernswerter Harmonie. |
Ein weiteres Projekt von entscheidender Be-deutung für die Entwicklung des Landes war der vom Badischen Landtag 1838 genehmigte Bau einer staatlichen Eisenbahn von Heidelberg über Karlsruhe bis zur Schweizer Grenze. Die Inbetriebnahme der Strecke über Weingarten nach Karlsruhe konnte bereits am 10. April 1843 erfolgen. Dadurch und durch den Bau und Betrieb eines Bahnhofes in Weingarten wurden auch für Ortsansässige einige Arbeitsplätze geschaffen.
In jener Zeit gärte es fast überall in Europa. Der Ruf nach einem deutschen Nationalstaat, nach Freiheit und Menschenrechten und gegen Unterdrückung durch die Fürsten im damaligen „Deutschen Bund“ erfasste auch die Bewohner im Großherzogtum Baden. Der Ausbruch der ersten Deutschen Revolution 1848/49 verschonte auch Weingarten nicht.
Am 25. Juni 1849 kam es in Durlach bei der Obermühle zu einem Gefecht zwischen Aufständischen und einer Division preußischer Soldaten. Die Preußen verloren 10 Offiziere und 114 Mann. Im „Werrehäusle“ (Werrabronn) wurde für die Verwundeten ein Notlazarett und in Wein-garten „Militärhospitäler“ in den Gasthäusern Lamm, Krone und Kreuz eingerichtet. Von den verwundeten preußischen Soldaten erlagen mehrere ihren Verletzungen. Fünf von ihnen wurden auf dem damaligen Ortsfriedhof im Lepfus bestattet, wo heute noch zwei Grabsteine an sie erinnern. Nach der missglückten Revolution wurden 49 Weingartener Bürger, die die Aufständischen maßgebend unterstützten, zur Rechenschaft gezogen. Der damalige Pfarrer Grohe und „Bierlouis“ Ludwig Hill wurden zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. |
Drei Gotteshäuser nebeneinander – eine Besonderheit
Im Jahre 1556 regierte in Heidelberg Kurfürst Otto Heinrich. Noch im gleichen Jahr ließ er die Reformation in der Kurpfalz einführen. Getreu dem Grundsatz: „Cuius regio, eius religio!“ d.h. „Wer regiert, der bestimmt auch die Religion der Untertanen!“ mussten auch die Bewohner des zur Kurpfalz gehörenden Weingartens die lutherische Lehre annehmen. Die katholische Seelsorge hatte damit im Ort ein Ende gefunden. Bis zum Jahr 1622 war die Kirche wechselweise im Besitz der lutherischen oder der reformierten (calvinistischen) Gemeinde, je nachdem, welcher der beiden Konfessionen die Kurfürsten entsprechend angehörten.
Im Jahre 1698 erhielt die katholische Gemeinde von Weingarten vom Kurfürsten von der Pfalz das Recht zur Mitbenutzung der reformierten Ortskirche. Sieben Jahre lang diente die Kirche als so genannte „Simultankirche“. Durch die Bestimmungen der „Kurpfälzer Religionsdeklaration“ vom 21. Dezember 1705 teilten Calvinisten und Katholiken die Ortskirche St. Michael und begrenzten ihren Bereich (Langhaus bzw. Chorraum) durch eine Mauer. Der Glockenturm (Westturm) wurde gemeinsam benutzt. Dagegen mussten die Lutheraner ihre Gottesdienste in Privathäusern und Scheunen abhalten. Erst 1724 konnten sie mit finanzieller Unterstützung von Glaubensgenossen aus Norddeutschland, Dänemark und Schweden ein eigenes Gotteshaus errichten. Der Bauplatz lag an der Ecke Kirchstraße / Am alten Friedhof (heute Kindergarten am „Alten Friedhof“). Als sich am 1. Januar 1821 die Lutheraner mit den Reformierten zur „Evangelischen Union“ vereinigten, wurde das lutherische Gotteshaus für andere Zwecke frei.
Durch die zunehmende Einwohnerzahl reichte der katholische Gottesdienstraum im Chorturm nicht mehr aus. Deshalb wurde er 1758 abgebrochen und durch den Neubau einer kleinen Barockkirche ersetzt. Dieser Kirchenanbau wurde 1760 eingeweiht. Des Weiteren wurde 1790 die erste Synagoge in der Kirchstraße 15 (gegenüber dem evangelischen Pfarrhaus) errichtet.
1895 war nun auch die Barockkirche zu klein geworden. Aus diesem Grund wurden sie und gleichzeitig drei Häuser an der Ostseite des Kirchplatzes abgerissen, um Platz zu schaffen für den Bau einer neugotischen Kirche. Sie wurde am 10. Oktober 1899 feierlich eingeweiht. Das restliche Kirchlein und das alte Rathaus mussten dann 1902 dem Neubau der evangelischen Kirche weichen. Jetzt bestand eine einmalige Konstellation in ganz Baden: zwei christliche Gotteshäuser und die jüdische Synagoge standen nun in einer Reihe unmittelbar hintereinander. | Aufnahme 1900: Am Bildrand links die Synagoge, die neu gebaute kath. Pfarrkirche St. Michael und das kurz darauf abgerissene alte Kirchlein |
In der Reichspogromnacht 1938 wurde die Synagoge demoliert und 1940 abgerissen. Am Karsamstag 1945 wurde das Kirchenschiff der evangelischen Kirche durch eine Bombe zerstört und im Jahre 1954 wieder errichtet. Der alte Kirchturm wurde zum Zweck der Stabilität ummauert.
Der Wartturm und seine Aussicht
Leider besaß Weingarten kein Stadtrecht mit dem Privileg einer Schutzmauer wie zum Beispiel Wiesloch, Bretten und Heidelsheim, die auch zur Kurpfalz gehörten. 1589 war über den Häusern auf der Nordseite des Marktplatzes als Ersatz dafür ein Wartturm mit Helmdach und Glockenreiter zur Warnung der Bürger vor drohender Gefahr und als Stützpunkt und zur Unterbringung kurpfälzischer Geleitmannschaften errichtet worden. Sein Dachaufbau brannte im „Pfälzischen Erbfolgekrieg“ 1691 ab und wurde nicht mehr ersetzt. Danach war er zeitweise auch Ortsgefängnis. 1884 wurde er renoviert und mit einem Zinnenkranz versehen. Im April 1945 erlitt der Turm durch Granaten schwere Beschädigungen, die erst im Jahr 1956 beseitigt wurden. Gleichzeitig wurde auf dessen Südwestseite ein Engelrelief als Kriegsmahnmal angebracht zum Gedenken an die Millionen von Kriegstoten, Soldaten und Zivilisten, an die Ermordung von Millionen Juden und körperlich und geistig Behinderten (Euthanasie). An der rückseitigen Gedenktafel wird außer an die beiden Weltkriege auch an den deutsch-französischen Krieg 1870/71 erinnert. Der siegreiche Krieg gegen den „Erzfeind“ Frankreich erfüllte die Menschen nach den vielen Niederlagen und Demütigungen der Vergangenheit auch in unserer Gegend mit Stolz. Dazu zählte natürlich auch die Rückkehr des Elsass in das Deutsche Kaiserreich. An diesem Krieg nahmen auch 87 Männer aus Weingarten teil, von denen fünf im Kampf fielen. Für sie wurde ein einfaches Denkmal vor der evangelischen Kirche aufgestellt, das 1904 durch ein pyramidenartiges Mal aus rotem Sandstein ersetzt und an der Ecke untere Kirchstraße/Marktplatz errichtet wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste es der Gestaltung des Kirchenvorplatzes weichen.
Von der Aussichtsplattform des Wartturms genießt man einen wunderbaren Panoramablick auf die drei Weinanbaugebiete an den Südhängen des Ortes (Kirchberg, Katzenberg und Siedental), die Weinmanufaktur, die Tullabrücke (1823) mit dem Walk’schen Haus (1701), das Rathaus (1900) und die beiden Kirchen.
Als der badische Staat 1876 die Simultanschule einführte, erwies sich das Schulhaus über dem alten Amtskeller als zu klein. Deshalb setzte man ihm 1883 ein zweites Stockwerk mit Dachreiter auf. Da die Gemeinde weiter wuchs, musste 1906 ein drittes Stockwerk gebaut werden.
Sehr interessant ist zudem der Übergang von der Rheinebene in das Kraichgauer Hügelland. Ebenfalls erwähnenswert ist das Naturschutzgebiet (NSG) „Weingartener Moor“, der letzte Rest der ehemaligen Kinzig-Murg-Rinne. Die alten „Wengerda“ nannten es „Torflager“, denn hier wurde seit 1840 Torf gestochen und zu Brennzwecken verkauft. Heute befindet sich im Museum im Turm eine vom Bürger- und Heimatverein betreute heimatkundliche Ausstellung.
Die jüngere Zeit
Nach dem zweiten Weltkrieg vergrößerte sich Weingarten enorm. Zirka 2500 Flüchtlinge/ Vertriebene deutscher Abstammung vor allem aus Osteuropa fanden in Weingarten eine neue Heimat. In den Häusern und Wohnungen musste man zusammenrücken. Auf die Dauer war dieser Zustand unhaltbar. Deshalb entstand von 1949 bis 1952 der neue Weingartener Ortsteil „Waldbrücke“. Nach der Währungsreform vom 21. Juni 1948 veränderte sich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung das Gesicht unseres Dorfes. Aus der rein agrarisch strukturierten Gemeinde wurde nun eine Wohngemeinde mit Industrieansiedlungen und Pendlern, die in den umliegenden Städten, vor allem in Karlsruhe, Arbeit und Einkommen fanden. Außerdem wurde eine große Flurbereinigung im Weinbau und in der Landwirtschaft mit Unterstützung amerikanischer Soldaten durchgeführt. Auch sie brachte vielen Weingartenern in den Nachkriegsjahren neue Verdienstmöglichkeiten. Sie war auch eine Voraussetzung für die Errichtung der Bauernsiedlungen „Sallenbusch“ im Jahr 1952 und „Sohl“ im Jahr 1960. Ferner wurde Mitte der 1950er Jahre das Dorf durch das Baugebiet „Bruch“ erweitert.
In den 1970er Jahren wurden die Baugebiete „Setz“ und „Waldbrücke Nord“ erschlossen und bebaut. Außerdem wurde von 1969 bis 1975 die Verdolung des Walzbaches in der Bahnhofstraße ab der „Kärcherhalle“ bis zur „Hartmannsbrücke“ durchgeführt. Mit der Sanierung der Ufermauern entlang des offenen Walzbachs zwischen der Marktbrücke und der Hartmannsbrücke im Jahr 1986 sowie mit der Renovierung des „Walk‘schen Hauses“ und des „Fränkischen Hofs“ wurde der Ortskern attraktiver gestaltet. Der Kern dieser Sanierungsmaßnahme „Ortsmitte“ war jedoch der neu geschaffene Rathausplatz, der mit seiner Bebauung am 16. Juni 2000 seiner Bestimmung übergeben und mit einem großen zweitägigen Bürgerfest gefeiert wurde.
Seit 2012 hat der Ort zirka 10.000 Einwohner. Ganz im Sinne der europäischen Verständigung pflegt Weingarten eine Partnerschaft mit Liverdun bei Nancy in Frankreich und Olesa de Montserrat in Spanien. Frankreich ist schon lange nicht mehr der deutsche Erzfeind, und deshalb sind wir Deutschen froh und dankbar um den Freundschaftsvertrag mit unserem Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins. Dieser so genannte „Elysée-Vertrag“ wurde am 22. Januar 1963 von dem damaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer besiegelt, der bis heute erfolgreich die Beziehungen zwischen den beiden Staaten auf politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ebene regelt. Zudem hat er auch auf kommunaler Ebene Partnerschaften zwischen Städten, einen regen Austausch zwischen Schulen, Vereinen und anderen Institutionen möglich gemacht. Hoffen wir, dass uns dieser Frieden erhalten bleibt.